von Barbara Driessen, Rotterdam

Wer den Fuß auf die Halbinsel Katendrecht am Rotterdamer Rijnhaven setzt, steht auf historischem Boden. Zwischen modernisierten Kais, Streetfood-Ständen, szenigen Cafés und restaurierten Lagerhäusern schlägt das Herz eines Viertels, das sich wie kaum ein anderer Ort in Europa mit Migration verbunden weiß – als Ausgangspunkt, als Durchgangsstation, als neue Heimat. Seit Mai 2025 ist Katendrecht auch der Sitz eines der symbolträchtigsten Museen Europas: FENIX, das erste internationale Kunstmuseum, das sich ausschließlich dem Thema Migration widmet.

Zwischen 1820 und 1913 wanderten rund 50 Millionen Menschen aus Europa nach Nord- und Südamerika aus – viele von ihnen nutzen dazu die Schiffe der Holland-Amerika-Linie von Rotterdam aus. Sie kamen zunächst in Katendrecht an, schleppten ihre Koffer über Kopfsteinpflaster, warteten in Hallen mit nummerierten Bänken auf das Einschiffen. Ihr Ziel: New York, Buenos Aires, Kapstadt – irgendwohin, wo das Leben vermeintlich leichter sein würde.

Am Anfang: Hoffnung im Gepäck

Besonders viele Menschen aus Irland, Polen, Italien, Russland und Osteuropa nutzten den Rotterdamer Hafen als Sprungbrett in die Neue Welt. Manche blieben hängen, andere kehrten enttäuscht zurück. Es war ein Ort des Abschieds, der Träume und nicht selten des letzten Blicks zurück. Heute leben in Katendrecht Menschen aus über 70 Nationen – darunter große Gemeinschaften aus Kap Verde, der Türkei, Marokko, den Antillen, Indonesien, Syrien und den Balkanstaaten.

Es ist ein Viertel voller Sprachen, Kulturen und Küchen. Wer über den Deliplein läuft, riecht Minztee, gebratene Mie Goreng und „Kapsalon“, ein ursprünglich Rotterdamer Gericht, das aus unterschiedlichen Schichten Pommes, Fleisch, Käse und Salat besteht. Früher war der Deliplein Teil eines berüchtigten Rotlichtviertels, hat sich aber in den letzten Jahren zu einem kreativen und gastronomischen Hotspot entwickelt, mit Restaurants, Bars, Galerien und dem Walhalla-Theater – ein kulturelles Puzzle aus Jahrhunderten der Bewegung.

FENIX: Architektur als Symbol

Genau hier, am historischen Quarantänegebäude der Holland-America Line, erhebt sich nun das neue FENIX Museum – aus den Überresten eines ehemaligen Lagerhauses. Der Stararchitekt Ma Yansong hat mit dem „Tornado“, einer spektakulären, doppelt geschwungenen Treppenskulptur aus Edelstahl, nicht nur ein architektonisches Wahrzeichen geschaffen, sondern ein begehbares Symbol des Aufbruchs. Sie wirbelt die Besucher:innen spiralförmig nach oben, hinaus auf eine Aussichtsplattform mit Blick über Hafen, Stadt – und Horizont.

Doch nicht nur die Form des Gebäudes, auch sein Inneres ist ein Manifest der Bewegung: Ausstellungsstücke wie ein zerschlissener Kinderschuh, ein altes Radio aus Aleppo oder ein Brief aus Suriname erzählen Geschichten von Flucht, Sehnsucht, Hoffnung und Identität. In einem nachgebauten Bus mit Puppenfiguren aus verschiedenen Kulturen sitzen Migranten nebeneinander – stumm, doch voller Ausdruck.

Ein Raum ist dem niederländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam gewidmet, der schon im 16. Jahrhundert für geistige Beweglichkeit und kulturellen Austausch stand. Auch Werke von zeitgenössischen Künstlern wie Max Beckmann oder Alejandro Cartagena lassen Migration als ästhetisches, politisches und zutiefst menschliches Phänomen erlebbar werden.

Migration als Teil unserer Gegenwart

„Migration ist keine Krise – sie ist eine Konstante des Menschseins“, sagte Museumsdirektorin Anne Kremers bei der Eröffnung. Und tatsächlich spiegelt sich in FENIX nicht nur die Vergangenheit, sondern auch das Jetzt: globale Bewegungen, freiwillige und erzwungene Mobilität, politische Brüche und persönliche Entscheidungen. Das Museum ist kein stiller Ort. Es ist ein pulsierendes Archiv der Weltbevölkerung, ein Ort der Fragen, nicht der Antworten. „Migrationsgeschichten sind das schlagende Herz von Fenix. Sie durchdringen jeden Aspekt des Museums“, so Kremers.

Die „Landverhuizerstour“: Mit Geschichten durchs Viertel

Eine perfekte Ergänzung zum Museumsbesuch ist die geführte „Landverhuizerstour“ (Auswanderertour) durch Katendrecht. Dabei geht es nicht nur um Migrationsstatistiken, sondern um gelebte Geschichten von reellen Auswandererfamilien. An alten Lagerhausfassaden, in ehemaligen Schlafsälen und an der Anlegestelle erzählen Guides von echten Menschen – darunter auch David Zee (61), dessen Großvater einst aus China einwanderte und schließlich in Katendrecht eine Niederländerin heiratete.

Die Teilnehmenden begegnen Nachfahren dieser Migranten, hören persönliche Geschichten und können kulinarische Spezialitäten aus verschiedenen Kulturen probieren, wie z. B. chinesische Dumplings oder kapverdische Liköre. Die Tour besucht auch das ehemalige Theater Walhalla – einst ein Ort des proletarischen Entertainments – heute ein Kulturzentrum mit multikulturellem Programm. Zwischen Kaffeehäusern und Ateliers hat sich Katendrecht neu erfunden – als Ort, der nicht vergisst, sondern integriert.

Katendrecht, neu gelesen

Früher nannte man Katendrecht das „verlorene Viertel“. Heute ist es ein Labor der Zukunft. Zwischen Containern und Cafés, Moscheen und Kunsträumen, erzählt dieses Stück Rotterdam eindrucksvoll davon, wie Vergangenheit und Gegenwart miteinander reden können – durch Architektur, Kunst und Geschichten (bd).

Quelle: Niederländisches Büro für Tourismus & Convention (NBTC), geschrieben von Barbara Driessen, Rotterdam