Nun war das also geschafft, wir waren im Wasser. Ich war im Wasser. Unglaublich, aber wahr. Dann sollte es endlich losgehen. Unser Weg sollte uns also senkrecht fünf Meter nach unten führen, an einer Leine entlang, die dort hing, beschwert durch eine Reserveflasche. Ich nahm mir fest vor, nach Annette zu sehen, wie es sich für einen guten Buddy gehört, da ich ja um ihr Problem mit den Booten wusste, dieses noble Ansinnen durchkreuzte ich mir aber selbst, weil ich einen Anfängerfehler machte. Infolgedessen hatte ich – mal wieder – genug mit mir selbst zu schaffen. Wir tauchten ab und ich wartete zu lange mit dem Druckausgleich, nämlich bis ich Druck auf den Ohren merkte. Und das war zu spät. Also stopp, ein Stück nach oben, wieder Druckausgleich… endlich konnten wir weiter runter, bis wir tatsächlich das Ende der Leine erreicht hatten. Und das waren fünf Meter? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Der Rumpf des Tauchbootes schien so knapp über uns zu sein, das waren doch höchsten zwei oder drei Meter.
Hier sah ich zum ersten Mal wieder nach Annette, die mir aber völlig ruhig zu sein schien. Umso besser. Nun gab uns der Tauchlehrer das Zeichen: Los geht’s! Er schwamm über uns, packte uns an den Flaschen und schob uns in eine Richtung, weg von dem Seil und dem Tauchboot. Zum ersten Mal fiel mir dabei bewusst das Wrack der Ghiannis D. ins Auge, das sich unter uns ausbreitete. Wenn man sowas noch nie zuvor gesehen hat, ist so ein Anblick überwältigend. Das Schiff war ungefähr hundert Meter lang und wir schwebten über dem, was früher mal der Frachtraum gewesen und schwammen weiter in Richtung Bug. Es ging ausgesprochen gut, was mit an der Tatsache lag, dass wir von hinten angeschoben wurden. Wir kamen tiefer, doch der Druckausgleich fiel mir nun eher leichter. Das lief fast schon „nebenher“, es gab viel zu viel zu sehen. Sie müssen das verstehen, ich kannte sowas entweder nur aus dem Fernsehen oder aus Aquarien. Jetzt aber aber waren wir an einem echten Korallenriff mit einem echten Wrack… ich war hin und weg. Hinzu kam das Tauchen selbst. Das Atmen durch den Regulator funktionierte und machte mir keine Probleme. Wie gut, dass man beim Tauchen nicht reden muss, denn ich war sowieso sprachlos.
Wir erreichten endlich den Bug, wo uns der Tauchlehrer das erste Mal losließ, so dass wir frei schwimmen konnten. Wir blickten nun über den Bug, der auf die Seite gekippt war, hinweg, das Wrack entlang bis fast zum Heck. Eine unglaubliche Sicht, die ich so noch nie erlebt hatte. Man konnte sogar die Aufbauten sehen und unser Tauchboot, das daran vertäut war. In dem Moment kam mir etwas wieder in den Sinn: Hatte es nicht geheißen, der Bug würde in zehn Metern Tiefe liegen? Ungläubig blickte ich auf meinen Tauchcomputer – doch: 10,2 Meter zeigte das Gerät an. Ich blickte zur Wasseroberfläche. Sie schien so nah zu sein. Hier lernte ich, dass man keinen Pfifferling auf das geben kann, was man unter Wasser sieht oder abzuschätzen glaubt. Bei Entfernungen spielt einem die Optik eindeutig einen Streich. Ich sah zu Annette. Doch der schien es nach wie vor gut zu gehen, was mich beruhigte. Ich gab ihr das „Okay-Zeichen*“. Ist bei Dir alles in Ordnung? Sie wiederholte das Zeichen. Alles in Ordnung.
Dann setzten wir unsere Tour fort, wieder geführt von unserem Tauchlehrer. Es ging nun an der Backbordseite des Schiffes zurück in Richtung Heck. Da das Meer hier abfiel, wurde das Wasser immer tiefer. Wir durften aber nur bis zwölf Meter, also mussten wir irgendwann etwa zehn Meter über dem Meeresboden schweben. Wir kamen an der Brücke vorbei, am Kamin und waren schließlich über dem Bug. In der Tiefe unter uns konnte ich andere Taucher erkennen.
Unser Weg führte uns am Bug entlang zurück auf die Steuerbordseite, wo wir die Brücke erneut umrundeten und schließlich von vorn an eines der Fenster heranschwammen. Unser Tauchlehrer machte uns vor, wie wir uns dort festhalten durften: An der Umrandung des Fensters, aber nur mit spitzen Fingern. Nicht mit der vollen Hand zugreifen, sonst konnte man sich an dem rostigen Metall schneiden. Der Tauchlehrer deutete ins Innere. Was gab es da zu sehen? Dann erkannte ich es: Die Ghiannis D. liegt etwas seitlich gekippt. Durch eine Öffnung, vermutlich ein Bullauge oder etwas ähnliches, fiel ein Lichtstrahl in den Raum, in den ich sah. Darin befand sich ein Fischschwarm, der den Lichtstrahl umkreiste. Ein faszinierendes Schauspiel, denn der Rest des Raums lag im Dunkeln.
Während ich das betrachtete, hatte der Tauchlehrer Annette zu einem Fenster weiter rechts geführt. Irgendwann kam er dann und gab uns ein Zeichen – Zeit zum Auftauchen. Tatsächlich hatte ich den Inhalt meiner Pressluftflasche, der zu Beginn bei 200 bar war, schon bis auf knapp unter 70 bar verbraucht. Wir machten uns an den Aufstieg, um die Aufbauten des Wracks herum zu der Leine und von dort wieder an die Wasseroberfläche. Als wir diese erreichten hatten, wurden mir mehrere Dinge gewahr. Erstens, meine Nase war voller Rotz. Bah! Zweitens, der Tauchcomputer zeigte eine Gesamttauchzeit von 40 Minuten – ich hätte gesagt, wir waren höchstens 20 Minuten unterwegs gewesen. Drittens, Annette hatte noch wesentlich mehr Luft in ihrer Flasche als ich. Die Angeberin hatte wieder mal gegeizt mit dem Verbrauch und sich was für schlechte Zeiten zurückgelegt. Viertens, ich war völlig sprachlos und völlig überflutet von den Eindrücken dessen was ich eben erlebt hatte. Ich vermute mal, dass der letzte Punkt der Grund ist, warum bei dem ersten Freiwassertauchgang innerhalb des Kurses keine gesonderten Übungen vorgesehen sind. Der Tauchgang dient dazu, sich mit der Ausrüstung und der neuen Umgebung vertraut zu machen. Gott sei Dank!
Als wir an der Leiter des Tauchbootes angekommen waren, kamen die Leute von der Besatzung und nahmen uns die Flaschen ab, so dass wir nicht mit diesen die Leiter hochklettern mussten. Auf der Plattform angekommen zeigte uns unser Tauchlehrer den nächsten wichtigen Schritt: Pflege der Ausrüstung. Wir waren in Salzwasser unterwegs gewesen und mussten Regulatoren und Tarierweste abspülen. Dann schälten wir uns aus den Neoprenanzügen. Als nächstes galt es dann, die Eindrücke zu verarbeiten. Aber für den Moment war das alles ein bisschen viel. Es war ein merkwürdiges Gefühl, eine Mischung aus Stolz und Faszination. Wir hatten es wirklich geschafft. Und es war nicht so schlimm wie befürchtet. Wow. Jetzt war ich wirklich gespannt auf den zweiten Tauchgang. Und der sollte noch eine besondere Überraschung bereithalten.
* „Okay-Zeichen“: Daumen und Zeigefinger einer Hand bilden ein „O“, die anderen Finger werden abgespreizt. Ganz wichtig: Niemals beim Tauchen „Daumen hoch“ für „alles okay“ machen, denn dieses Zeichen bedeutet „sofort auftauchen“. Es sorgt nur für Verwirrung und einen frühzeitig beendeten Tauchgang.
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